Das Projekt „Gestrandet“ bietet Einblick in die Lebenswelten von Jugendlichen verschiedener Herkunft: einheimischen Lehrlingen, Jugendlichen mit Migrationshintergrund und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Da werden heikle politische Themen unverblümt angesprochen. Eine etwas andere Ausstellung – oder ein Aufschrei zur Debatte, ein Ort in ein Gespräch zu kommen.
- Zur Eröffnung am Mittwoch, den 14. September (19 Uhr) führen die beiden Kuratorinnen in ihr Projekt ein, anschließend spricht der Kunsthistoriker Dr. Erwin Pokorny über den "Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch. Eintritt frei.
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Wie denken junge Menschen über ihren Körper, den Genuss und das Unheimliche? Wie deckt sich das mit dem, was WissenschaftlerInnen über diese Altersgruppe schreiben? Um diese Spannung geht es in dem Bild und WortProjekt von Birte Brudermann & Clara Peterlik, das nach den Wiener Festwochen im vergangenen Frühling nun im Herbst im KULTUMGraz gezeigt wird. Zu Sprache kommen bei uns aufgewachsene junge Menschen, die im öffentlichen Diskurs eher weniger vorkommen: nämlich Lehrlinge, sodann Flüchtlinge, die ohne ihre Familie es bis hierher geschafft haben, sowie Geisteswissenschaftlerinnen, die über diese Milieus forschen. Diese ungewöhnliche Konstellation macht diese Ausstellung in einer Weise spannend, die etwas von einem schwelenden Gesellschafts-, Kultur- und auch Religionskonflikt zum Ausdruck bringt, den die political correctness schlicht verschweigt. Man kann auch sagen: Hier wird etwas von dem sichtbar, was Österreich derzeit im Kleinen und Europa im Großen politisch erlebt. Was sich vor allem unter der Decke abspielt, aber zu wenig die Öffentlichkeit erreicht.
Lehrlinge statt Theater
Birte Brudermann kommt eigentlich aus dem Theaterbereich. Doch über die Jahre machte sie die Erfahrung, dass sie damit immer nur die je eigenen Kreise bedient: „Man spielt für eine gewisse Szene, man sieht sich Produktionen an, heißt sie gut, kritisiert sie, ist mitunter neidisch, wenn andere mehr Geld bekommen.“ Nach einigen Jahren stieg sie aus.
Und wandte sich vor etwa acht Jahre einer ganz anderen Gruppe zu, die in der Öffentlichkeit eigentlich keine Sprache haben: nämlich Jugendlichen, die im Ausbildungssektor nicht Gymnasiasten sind, sondern Lehrlinge.
Ein zweites Feld dieser soziologischen Forschung kam mit dem öffentlichen Flüchtlingsproblem im Vorjahr hinzu, der Begriff der „unbegleiteten Flüchtlingen“ wurde zum Standardvokabular im medialen Sprechen über junge Menschen, die meist von ihren Familien aus Afghanistan oder Syrien vorausgeschickt wurden, um im freien Westen ein zukunftsfähiges Leben zu beginnen. Die meisten haben Unvorstellbares hinter sich.
Mit ihnen führte Birte Brudermann gemeinsam mit der angehenden Historikerin Clara Peterlik im vergangenen Herbst sogenannte Feldforschungsgespräche.
Definition durch Religion
Völlig überraschend war für die beiden Künstlerinnen, dass sich vor allem die Jugendlichen migrantischer Herkunft besonders über die Religion definierten. „In kürzester Zeit gingen die Gespräche über die Religion.“ (Das war auch der Grund, warum sie diese Ausstellung dem KULTUM angeboten haben.) Doch dabei geht die Schere weit auf: Hier der klassische agnostische Universitätsprofessor, der religiöse Sprache zu „übersetzen“ sucht – „Paradies ist ein Wort für eine Idee“ – dort junge Menschen, die in der Entwurzelung durch die Migration auf das kulturelle Gepäck ihrer Eltern- und Großeltern zurückgreifen und hier wiederum heimische Jugendliche, die sich der eigenen religiösen Tradition so gänzlich entsagt zu haben scheinen: Es trifft hier etwas aufeinander, dass keinen öffentlichen Diskurs hat.
Verschiedene Kulturen im eigenen Land: „Man geht unter“
Aber auch bei anderen Themen klaffen die Erfahrungen der Jugendlichen – und vor allem die Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen – denkbar weit auseinander. Ein Lehrling antwortet auf die Frage, ob er nicht manchmal auch zum Kebab-Stand geht: „Das ist was, was ich versuche, immer wieder zu vermeiden. Weil ich sehe immer die 3 bis 6 Euro, was das Kebab kostet, kann er schon mal die Hälfte wieder heimschicken, dass die ganze Familie herkommt. Der baut fünf, sechs, sieben Jahre lang einen Kebab-Stand auf, hat das Geld, dass seine Familie herkommt, die kann wiederum kein Deutsch. Dann haben wir wieder die da, dann leben die wieder untereinander. Dann bilden sich bei uns Gruppierungen. Aus den Gruppierungen haben wir dann wieder verschiedene Kulturen, verschiedene Länder im eigenen Land, und dann: Türken, Bosnier, Serben, die hauen sich sowieso immer auf die Gosch'n, die Österreicher müssen zuschauen, weil wenn wir uns einmischen, sind wir auch hinnig. Man geht unter!“
Warum Jugendliche freiheitlich wählen
Womit wir beim Gespenst des zunehmenden Rechtsrucks in Europa (und der erneuten Bundespräsidentenwahl) angekommen sind: Seit Jahren macht Birte Brudermann in ihren Projekten die Erfahrung, dass Lehrlinge und Berufsschüler oft fast durchgängig die Freiheitlichen als Partei ihrer Wahl nennen. „Ein Jugendlicher hat gesagt: 'Ich bin 16, und finde es blöd, dass ich mit 16 wählen soll, weil ich ja nicht weiß, worum's geht, und die FPÖ ist die einzige Partei, wo ich versteh, worum's geht.' Es gab auch einen anderen, der hat gesagt, er würde SPÖ wählen, aber die reden für ihn so, dass er’s nicht versteht. Und wenn man dann diskutiert: Da gibt’s Slogans, die werden quasi in Fleisch und Blut übernommen, und wenn man versucht, einen anderen Standpunkt zu erklären, sind diese Sätze so stark, dass es fast unmöglich ist, da zu kontern.“
Extreme Äußerungen kamen aber auch manchmal von jugendlichen Flüchtlingen und Zuwanderern – vor allem was das Frauenbild anbelangt. „Da kamen von den Flüchtlingen Aussagen, die uns als europäische Frauen sehr fremd sind, und dann kam aber so der Zusatz: ‚Ja was wollt Ihr Europäer, Ihr seid wenige. Und wenn wir aus Asien und Afrika kommen, wir sind einfach mehr und viel stärker.‘ Das sind genau die Themen, wo ich sag, da müssen wir jetzt uns Gedanken machen, und nicht in 15 Jahren.“
Feldforschungsgespräche hier – Theoretiker*innen da
Was macht man mit einem derartigen Befund? Birte Brudermann & Clara Peterlik machten das Naheliegende: Expert*innen zu befragen. Das impliziert natürlich auch das Anerkennen von Theoretiker*innen, die sich über diese Milieus Gedanken machen. „Ich ging gerne in die Vorträge dieser gescheiten Menschen“, sagte Brudermann. „Ich wollte sie vernetzen, miteinander ins Gespräch bringen.“ Parallel zu den Gesprächen mit den Jugendlichen wurden also Korrespondenzen und Interviews mit den Forscher*innen Helmut Dahmer (Horkheimer und Adorno-Schüler, em. Professor für Soziologie) Hanna Hacker (Universitätsdozentin, Soziologin, Entwicklungswissenschaftlerin mit Arbeitsschwerpunkten in Postcolonial und Cultural Studies in feministischer und queerer Perspektive) und Erwin Pokorny (Kunsthistoriker mit Schwerpunkt niederländische Malerei) geführt, die die Aussagen der Jugendlichen analysierten.
„Doch im direkten Gegenüber von Theoretiker*innen und Jugendlichen funktionierte diese Vernetzung nicht so ganz.“ Sagt Brudermann. Ein weiteres Indiz der Notwendigkeit für ein anderes Format.
In der Ausstellung gibt es demnach zwei Farben: Schwarz für die Theorie und grau für die Aussagen der Jugendlichen. Die Sprüche haben es in sich: „Mein letzter Genuss waren drei Zigaretten in Traiskirchen“, steht da in ausdrucksvoller roter und schwarzer Blockschrift. In schulmäßig gesitteter Schreibschrift erfährt man: „Lesben sind eine Gesellschaftskrankheit.“ Dann wiederum: „Die Nichtgläubigen können den Sinn des Lebens nicht beantworten.“ Auch der Vorschlag „Man könnte ein Mutterkreuz einführen“ hat seinen Ort an der Wand.
Thematischer Bezugspunkt ist zudem noch ein altes, sehr bekanntes Bild aus der Kunstgeschichte: „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch: Lust und Sünde, die Vorstellung eines guten Lebens, die Idee vom Paradies: Das waren die Ansatzpunkte für die drei großen Bereiche, die die beiden Künstlerinnen die Jugendlichen befragten:
„Das Unheimliche, der Körper und der Genuss“. Diese sind in der Ausstellung als Hörfeatures abzurufen.
„Gestrandet ist ein Projekt, in dem es um Begegnungen geht - Begegnungen zwischen Intellektuellen - die sich dadurch auszeichnen, gesellschaftsbezogene Strukturen zu durchschauen und gesellschaftliche Entwicklungen zu prognostizieren -, und arbeitenden Jugendlichen – dem „Volk“, die in vielen Fällen keine zeitlichen und materiellen Ressourcen haben, sich mit theoretischen Entwürfen zu beschäftigen. Begegnungen zwischen der Sprache der Intellektuellen und der Sprache der Jugendlichen. Begegnungen zwischen Menschen, die von außerhalb Europas kommen und sich in Europa erst zurecht finden müssen, mit Menschen, die Europa als ihr „Territorium“ bezeichnen und sich erst mit dem Gedanken abfinden müssen, dieses Territorium mit anderen Menschen zu teilen. Werte werden aufgebrochen; Wertvorstellungen werden verunsichert; Geschichtswandel passiert. Heute. Jetzt. Es ist ein akuter und gewaltiger Moment in der Geschichte Europas. Gestrandet macht Schnitte in die Schwarz-Weiß-Meinungen, lässt Differenzierungen zu, beobachtet Situationen detaillierter, geht auf einzelne Menschenschicksale ein, lässt einzelne Personen zu Wort kommen. Unterschiedliche, manchmal extrem einander entfernte Meinungen treffen aufeinander. Gestrandet ist eine dialektische Auseinandersetzung mit komplexen gesellschaftlichen Themen und kämpft gegen Stereotype an. Mauern zu bauen, ist keine langfristige und konstruktive Weise, Probleme zu lösen. Heute, jetzt, passiert große Geschichte, passiert ein neues Europa. Und die Auseinandersetzung mit dem neuen Europa muss heute, muss jetzt stattfinden, um zu verhindern, dass in ein paar Jahren aus einem Schwarz-Weiß-Denken heraus, Gefahren geschaffen wor den sind, die zu verhindern gewesen wären. Zum Nachdenken anzuregen, Dialoge zu führen, ist eine Möglichkeit, Gewalt und Krieg zu verhindern.“
- Gestrandet - Team
- Mit Beitragen von Jugendlichen aus folgenden Schulen bzw. Institutionen: Caritas Haus Sarah Neudörfl Berufsschule Apollogasse Wien 7 Landesberufsschule Geras Landesberufsschule Zistersdorf Berufsschule Amalienstrasse Wien 13 business academy donaustadt Haus Liebhardsthal des Arbeiter-Samariter-Bund
- Birte Brudermann, Regisseurin in den Bereichen Theater sowie Animations-, Dokumentar- und Experimentalfilm. Arbeitet in unterschiedlichen künstlerischen und fachübergreifenden Kollaborationen.
- Clara Peterlik, Studium der Geschichte an der Uni Wien sowie Science Po Paris. Gestaltet die Radiosendung »Policoustic« bei Radio Campus; freie Journalistin.
- Helmut Dahmer, Soziologe, Studium u.a. bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Ab 1974 Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. 1968 bis 1992 leitender Redakteur und Mitherausgeber der psychoanalytischen Monatszeitschrift Psyche. Seit 2002 freier Publizist in Wien.
- Hanna Hacker, Univ.-Doz. Dr., Uni Wien und freie Wissenschaftlerin. Soziologin, Historikerin, Entwicklungswissenschafterin mit Arbeitsschwerpunkten in Postcolonial und Cultural Studies in feministischer und queerer Perspektive. Internationale Gastprofessuren, Lehraufträge und Forschungsaufenthalte.
- Erwin Pokorny, Kunsthistoriker mit Forschungsschwerpunkt „Niederländische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, im Besonderen Hieronymus Bosch“. Kurator. Lehrbeauftragter. Wissenschaftl. Mitarbeiter, u.a. Albertina Wien, Stadtmuseum Nordico Linz, Akademie der bildenden Künste Wien, österr. Akademie der Wissenschaften, Kultur-Stiftung-Weimar, Universitäten Wien und Innsbruck.
- "Gestrandet" entstand in Kooperation mit Wiener Festwochen, büchereien wien und KulturKontakt Austria
- "Gestrandet" wird in Graz in Kooperation mit JUNGE KIRCHE der Diözese Graz-Seckau durchgeführt und unterstützt.
