Dranbleiben!
„Steter Tropfen höhlt den Stein!“ Dieses Sprichwort kannten schon die alten
Römer. Wenn immer wieder ein Wassertropfen nach dem anderen auf einen Stein fällt, erst dann entsteht nach und nach eine Mulde. So ist es auch im Leben. Meist bringt nicht der einmalige Versuch den Erfolg. Wenn man ein großes Ziel erreichen möchte, braucht man viel Geduld und Durchhaltevermögen. Das
kennen wir aus unserem Alltag. Denken Sie zum Beispiel, wenn es darum geht, eine Sprache oder ein Instrument zu erlernen oder auch eine Sportart zu trainieren. Da muss man dranbleiben, sonst hat man keine Chance und bringt sich selbst um einige Erfolgserlebnisse.
„Steter Tropfen höhlt den Stein!“ Nach diesem Motto handelt auch die hartnäckige Witwe, von der Jesus erzählt. Ihre Chance, Recht zu bekommen vor Gericht, ist denkbar gering. „Witwen und Waisen“ – das ist in der Bibel oft ein Synonym für Armut. Wenn eine Frau ihren Ehemann verlor, wurde sie meist abhängig vom Wohlwollen ihrer männlichen Verwandten. Von ihrem Mann erbt sie nichts – und kann froh sein, wenn die Familie ihres verstorbenen Mannes die Mitgift für sie rausrückt, die die Frau vielleicht gar selbst mit in die Ehe gebracht hat. So manche Witwe wird früher oder später vor dem Nichts gestanden haben, in der Sorge, wie sie sich und ihre Kinder erhalten kann. Nicht verwunderlich, dass da manch heikler Fall auch vor Gericht gelandet ist! Zu allem Unglück sieht sich die Witwe des Gleichnisses auch noch einem Richter gegenüber, der sich um nichts schert. Respekt vor Gott oder vor den Menschen, beides ist ihm fremd. Er weiß das auch selbst und es ist ihm egal. Dieser Richter will nur eins: seine Ruhe
haben. Und bloß nicht unangenehm auffallen! Von dem lästigen Drängen der Witwe bleibt er lange völlig unbeeindruckt. Sie prallt ab an der Gleichgültigkeit der Justiz und erlebt, was viele andere vor und nach ihr ebenfalls erleben: Das Recht scheint mit den Starken und Mächtigen zu sein! Es wäre nur zu verständlich, wenn sie aufgeben würde. Aber Resignation kommt für sie nicht in Frage. Wie eine Prophetin steht sie auf und besteht auf ihrem Recht. Sie bittet erst gar nicht, sie fordert sehr selbstbewusst: „Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher!“ Und sie tut dies pausenlos und immer, immer wieder! Nicht dass der Richter dadurch zur Einsicht käme – diese Frau nervt ihn einfach! Er spürt, dass sie nicht aufgeben wird. Und er wirkt irgendwie komisch in seiner Angst vor Handgreiflichkeiten: „Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht!“ Also gibt er ihr, was sie will. „Steter Tropfen höhlt den Stein!“ – In diesem Gleichnis siegt am Ende die Witwe, weil sie aufsteht und allein durch ihre Beharrlichkeit und Unerschrockenheit dem Richter auf den Wecker geht.
Wenn man dieses Evangelium hört, taucht schon die Frage auf: Ist denn auch Gott hart wie ein Stein, den man kaum erweichen kann? Ist er gar vergleichbar mit diesem ignoranten und egozentrischen Richter? Man merkt an dieser Stelle, wie schwierig bis unmöglich es oft ist, die Figur eines Gleichnisses 1:1 auf Gott zu übertragen. Bilder bleiben immer mehrdeutig. Jesu erklärende Worte mögen vielleicht eher den folgenden Gedankengang nahelegen: Wenn schon ein solch ungerechter Richter schließlich nachgibt, um wieviel schneller wird dann Gott sein Ohr öffnen für diejenigen, die ihn bitten? „Recht“ zu verschaffen gerade
jenen, deren Recht mit Füßen getreten wird – das ist doch gerade charakteristisch für den Gott der Bibel! Im Evangelium heißt es sogar: Gott wird „unverzüglich“ reagieren! Gott zögert nicht! – Wenn nur nicht unsere Erfahrung oft eine andere wäre ... „Schön wäre es!“ So mögen Menschen damals gedacht haben und so denken auch wir heute noch. Schön wäre es, wenn alle Witwen und Waisen, alle Armen und Rechtlosen, alle Geschundenen, Missbrauchten, Gequälten auf dieser Erde zu ihrem Recht kommen würden! Und zwar jetzt und sofort! Solche Erfahrungen gab und gibt es bestimmt. Es gibt aber auch damals wie heute die gegenteilige Erfahrung: Dass das Unrecht nicht eingedämmt wird. Dass Not nicht gelindert wird. Dass man das Gefühl hat mit allem Bitten und Beten gegen eine Wand zu rennen. Das Gleichnis von der hartnäckigen Witwe nimmt solche Erfahrungen ernst und macht sie nicht klein. Es verspricht keine schnelle
Wunscherfüllung und erwartet eine gehörige Portion Frustrationstoleranz. Mit der Identifikationsfigur der Witwe entlässt es uns Zuhörerinnen und Zuhörer
keinen Moment aus der Eigenverantwortung und Eigenaktivität. Es fordert einen langen Atem – aber aus der Gewissheit heraus, dass diese Ausdauer letztlich zum Ziel führt. Die Bibel spricht immer wieder von Menschen, die den Schritt eines solchen Vertrauens allen Widrigkeiten zum Trotz gewagt haben. Denken Sie an Moses und das Volk Israel, das auf seiner Wüstenwanderung von einem eigentlich stärkeren Feind überfallen wird! In dieser schwierigen Situation lässt Mose den Draht zu Gott nicht abbrechen. Wo er müde wird und seine Arme zu sinken
drohen, da unterstützen ihn die anderen im Gebet weiterzumachen, bis der Sieg
errungen ist.
Beten wider alle Realitäten. Hoffen wider alle Hoffnung. Und Festhalten an dem Vertrauen, dass Gott Gutes mit uns und dieser Welt vorhat. In diesem Sinne:
Lassen Sie uns dranbleiben!