Utopie?
"Der Wolf findet Schutz beim Lamm, / der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, / ein kleiner Junge leitet sie." (Jesaja 11,6)
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in meinen Ohren klingt das ziemlich unrealistisch und utopisch. Niemals kann so etwas passieren. Warum steht es dann in der Bibel? Ich glaube, dieses Bild will uns sagen: mit dieser Kraft des Geistes Gottes, der uns da gerade beschrieben worden ist in der Lesung, kann Unmögliches möglich werden.
Wie ein kleiner Same der wächst und aufblüht, wächst etwas in meinem Herzen, das mir hilft z.B. den Groll in mir zu überwinden und auf jemanden zuzugehen. Ich erzähle euch ein kleines Beispiel aus meinem Leben: Ich habe viele Assistentinnen die mir in meinem Alltag bei den Dingen helfen, die ich wegen meiner Behinderung nicht alleine kann. Eine dieser Assistentinnen nimmt öfter Dinge von mir ganz selbstverständlich, z.b. eine Haarspange, weil sie gerade eine braucht, oder einen Stoffbeutel. Keine großen Dinge, einfach kleine praktische Dinge, die sie eben jetzt in dem Augenblick braucht. Und sehr oft denkt sie dann nicht daran, mir diese Dinge wieder zurückzugeben. Zu ihrer Verteidigung muss man sagen, dass sie mir auch ganz oft Dinge von ihr gibt, wenn ich sie gerade brauche. Sie hat irgendwie nicht so ein Gefühl von, "das ist meines und das ist deines". Alles gehört irgendwie allen in ihrem Weltbild. Das ist einerseits schön, andererseits regt sich in mir oft ein großer Groll, wenn ich wieder merke, dass sie eine Sache nimmt, ohne mich zu fragen. Es gab in unserer gemeinsamen Geschichte schon sehr unterschiedliche Situationen, wie ich damit umgegangen bin. Einmal habe ich mich direkt in meiner Wut ganz offen beschwert und es gab einen riesen Streit, weil sie das Gefühl hatte, ich werfe ihr vor, sie würde stehlen. Daraufhin habe ich so eine Angst bekommen, dass ich in der nächsten Zeit gar nichts mehr gesagt habe. Dafür ist in mir ein riesen Groll und eine innere Wut entstanden, die immer gebrodelt hat und gleichzeitig hatte ich Angst, dass es wieder zu einer Explosion kommen könnte. Und nun kommt dieser gute Geist Gottes ins Spiel, der scheinbar Unmögliches möglich macht. Vor kurzem ist sie zu mir gekommen und hatte mal wieder eine Spange im Haar, von der ich sicher wusste, dass sie eigentlich mir gehört. Ich habe still gebetet: "Komm Heiliger Geist, hilf mir, mit der Situation umzugehen. Ich ärgere mich voll, dass sie meine Spange nimmt, aber ich habe auch Angst vor Streit." Und plötzlich ist ein Friede in meinem Herzen eingetreten. Ich wusste, dass diese Spange eigentlich nur eine kleine Sache ist, und dass sie es nicht wert ist, dass ich mich so aufrege. Und dann konnte ich in aller Freiheit und scherzhaft sagen: "Du, kann es sein, dass diese Spange in ihrem früheren Leben mal bei mir gewohnt hat?" Und sie hat gelacht und gemeint: "Ups, das kann schon sein, aber wenn ich weiß, dass sie dir gehört, dann lasse ich sie natürlich gerne da." Und sie hat sie aus ihren Haaren genommen und zu meinen Spangen gehängt. So leicht war das Problem gelöst, das in ähnlichen Situationen einen tagelangen sehr belastenden Streit ausgelöst hat.
Ich glaube, je mehr wir das im ganz Kleinen in unserem Alltag einüben, dass wir diesem guten Geist Gottes um Hilfe bitten, wenn wir vor einer schweren Entscheidung stehen und einen Rat brauchen, wenn wir vor einer Konfliktsituation stehen und Weisheit brauchen, wenn wir Unrecht in dieser Welt sehen und für Gerechtigkeit eintreten wollen und so weiter, ich glaube, wenn wir das im Kleinen einüben, dann breitet sich dieser gute Geist in unserem Umfeld und dann immer mehr in der Gesellschaft aus, sodass wir am Ende wirklich sagen können:
Man tut nichts Böses / und begeht kein Verbrechen / auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des HERRN, / so wie die Wasser das Meer bedecken. (Jesaja 11,9)