Predigt
Gottes Weisung im Herzen
Krieg, Deportation, Fluchtgedanken, Unsicherheit, Perspektivenlosigkeit. In diese Situation des Volkes Israel spricht der Prophet Jeremia verheißungsvolle Worte in der sogenannten Trostschrift. „Siehe“ – so beginnt der heutige Text; Gott zeigt neue Perspektiven und Wege auf. Der Sinai-Bund, bei dem die 10 Gebote übergeben worden waren, wurde vom Volk Israel gebrochen. Gott wird nicht müde, den Menschen erneut einen Bund anzubieten. Diesmal übergibt er die Gebote nicht auf Steintafeln, sondern er schreibt seine Weisung in das Herz des Menschen. Zur damaligen Zeit war das Herz nicht der Sitz der Gefühle, sondern der Erkenntnis und somit ebenso ein lebenswichtiges Organ. Vernunft und Glaube wurden damals nicht so differenziert, wie wir das heute tun.
Mich fasziniert an diesem Text besonders, dass niemand mehr einen anderen Menschen belehren wird, da jeder die Möglichkeit hat, Gott zu erkennen. Denn er vergibt unsere Sünde. Ist das nicht grandios, dass wir einander nicht mehr gegenseitig belehren müssen? Und gleichzeitig unglaublich weit von unserer Realität entfernt? Ich kenne das von beiden Seiten: Manchmal bin ich diejenige, die andere belehren will – natürlich in bester Absicht. Dann wieder werde ich belehrt z.B. darüber, was Seelsorger/innen dürfen und was nicht, wen wir segnen dürfen und wen nicht. Und das, obwohl Gott unendlich großherzig und großzügig ist. Er denkt nicht mehr an unsere Sünde. Manchmal haben Menschen nichts Besseres zu tun als andere kritisch zu beobachten und zu schauen, ob wohl alles richtig gemacht wird. Wer so denkt und urteilt, ist selbst im Tiefsten verunsichert. Vielleicht denkt man sich: Selbst weiß ich nicht, ob ich genügen kann, aber es tut weh, dorthin zu schauen. Bei anderen fallen mir Verfehlungen viel schneller auf als bei mir selbst.
Wo bleibt meine Großherzigkeit? Wo bleibt meine Nächstenliebe?
Ich plädiere nicht dafür, dass alles beliebig ist. Gott hat uns ja keinen Freibrief ausgestellt. Er hat uns seine Weisung in unser Inneres gelegt. Wenn ich in gutem Kontakt mit mir selbst bin, bin ich in der Lage, diese Weisung als Richtschnur für mein Leben anzunehmen, mich immer wieder neu danach auszurichten. Gleichzeitig werde ich die Menschen nicht aus dem Blick verlieren, mit denen mich etwas verbindet, die mit mir gemeinsam auf dem Weg sind. Und dieser Weg ist nicht immer ein Spaziergang. Wer sich auf ein Leben in der Nachfolge einlässt, muss damit rechnen, vieles loszulassen, Ansprüche runterzuschrauben bzw. anzupassen. Im Extremfall kann es das Leben kosten, sich auf Jesus einzulassen. Bereits der „Normalfall“ kann es anstrengend machen. Um nicht herzlos zu werden, braucht es immer wieder neu die Anstrengung, die Auseinandersetzung mit mir selbst und mit anderen, um auf dem Weg zu bleiben, der mich in die Freiheit führt. Nicht das Klammern und Festhalten an alten Vorschriften macht uns zu verlässlichen Bündnispartner/innen Gottes, sondern die Offenheit für das Neue, das er uns schenken will. Wenn wir tatsächlich aufmerksam die Zeichen der Zeit – also die Offenbarung Gottes heute – erkennen, können uns Menschen wie Jeremia begegnen, die uns an den Bund Gottes mit uns erinnern. Dazu braucht es Zeit, Information, Austausch und beständige Reflexion, damit wir in die Tiefe kommen und nicht bei uns selbst stehen bleiben. Nutzen wir die verbleibenden Wochen der Fastenzeit, um uns neu für Gottes Verheißung zu öffnen, für neue Perspektiven, für neue Blickrichtungen. Dann wird es Ostern, unabhängig vom Termin und davon, wie wir feiern, und dann werden uns die Augen aufgehen. Amen.