Das Kleingedruckte
Liebe Schwestern und Brüder!
Im Neuen Testament sind Totenerweckungen selten. Die Evangelien berichten von drei Fällen, in denen Jesus einen verstorbenen Menschen ins Leben zurückholt: den Jüngling von Naïn (Lk 7,11-17), die Tochter des Jaïrus (Mk 5,22-24.35-43 parr.) und Lazarus.
Im heutigen Evangelium haben wir gelesen, dass die Schwestern von Lazarus bitten, dass Jesus kommt, um seinem kranken Freund beizustehen, aber er lässt sich viel Zeit, bevor er sich dorthin auf den Weg nach Betanien macht, zu viel Zeit...
Es ist für uns so unbegreiflich, wie lange Jesus wartet – zwei lange Tage. Und als Jesus schließlich dort ankommt, ist es zu spät: Lazarus ist längst hinübergegangen… er ist tot und begraben! Die Menschen, allen voran Maria und Marta sind verunsichert, verzweifelt, traurig. Jesus hätte doch sicher helfen können! Warum hat er so lange gewartet?
Wir wissen es! Er wollte allen die Größe und Allmacht Gottes zeigen, die durch ihn selbst unter den Menschen da ist. Das wird deutlich in dem Wort, das er Marta sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben!“ Aber was heißt das schon, wenn man gerade einen geliebten Menschen gehen lassen musste – wie Marta und Maria? Wenn eine Ehefrau ihrem Mann beim Sterben zusehen musste und nicht helfen konnte. So viel wollte ihr Mann noch tun, so wichtig war er noch für sie und für die Familie! "Herr, wo bist du gewesen?" Oder wenn ein Familienvater von seiner Frau verlassen wird. Er begreift nicht und fragt sich: Hatten wir nicht vor Jahren mit Gottes Segen unsere Ehe begonnen? Was ist schief gelaufen? Warum haben wir nicht gesehen, wo Veränderung nötig war? Und nun ist es vorbei. "Herr, wo bist du gewesen?" Was bedeutet dieses Wort schon, wenn man an Grenzen des Lebens steht und Verzweiflung das Denken und Fühlen bestimmt?
„Glaubst du das?“, fragt Jesus. Was hätten die Frau und der Ehemann, was hätten wir in dieser Situation geantwortet? Marta war stark, sie hat ihr ganzes Vertrauen auf Jesus gesetzt und geantwortet: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll!“ Ihr Glaube gibt ihr die Kraft dazu und macht ihr Mut, doch nach vorne zu blicken. Könnten wir das? Würden wir auch so antworten, wenn Jesus uns diese Frage stellt?
Martas Antwort kann auch uns helfen, einen Schritt aus der Dunkelheit unserer Zweifel ins Licht zu gehen, neue Orientierung und neuen Mut zu bekommen – wenn sie unser Innerstes berührt, wenn der lebendig machende Geist, von dem bei Ezechiel (37,12-14) die Rede ist und den uns auch Paulus im Römerbrief (8,8-11) vor Augen stellt, in uns wirken kann.
Ich habe überlegt, ob sich die Frauen später, nachdem Jesus gestorben ist, wieder an diese Geschichte erinnert haben. So als hätten sie im Vorfeld schon einmal für den Ernstfall geübt. Im Gegenteil: Die Frauen erschrecken sehr, als das Grab leer ist und sie dem auferstandenen Jesus begegnen. Er scheint, als könnte man den Ernstfall eben nicht üben. Die Erschütterung ist stets dieselbe.
„Hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten“ – auch wir beten das jeden Sonntag im Gottesdienst. Es soll wohl so etwas wie eine innere Litanei werden, etwas, was wir einüben sollen, damit wir es parat haben, wenn es soweit ist. Und damit wir den Ruf Jesu hören: „Komm heraus aus der Enge deiner Trauer und lass Dich wieder von der Hoffnung anstecken! „Denn wer an mich glaubt, sagt Jesus, der wird leben.“, wie immer dieses Leben aussieht. Es kann ein Leben mit dem Verlust sein, ein Leben, welches die Trauer in sich trägt, und welches den Verstorbenen weiter vermissen lässt. Aber es ist dann ein Leben, das nicht mehr ins Grab hinein, sondern aus dem Grab herausschaut und bei dem sich der Trauernde von Jesu Worten anstecken lässt: „Komm heraus!“
Glaubst du das?“, das ist das Kleingedruckte, das wir gerne übersehen. Aber darin steht immer das entscheidend Wichtige. Es geht darum, ob wir uns wirklich, von ganzem Herzen, auf Jesus einlassen können und wollen. Bleibt es bei auswendig gelernten Glaubenssätzen, oder trifft mich deren Inhalt – und damit Jesu Worte – in meiner Existenz?
Martha, die Frau, die schon längst, vielleicht ohne es zu begreifen, über die Tradition und Lehre hinaus glaubt, jene Frau, die sich, wenn es darauf ankommt, nicht um Formen kümmert, sagt: „Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes...“
Das Bild von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle – „die Erschaffung des Menschen“ – drückt etwas von der Beziehung zwischen Mensch und Gott aus: Gott, der schwungvoll im Sturmwind auf einer Wolke daherkommt, streckt seinen Arm dem Adam entgegen, der noch kraftlos und unberührt daliegt. Trotz all seiner menschlichen Schönheit fehlt es ihm am Wesentlichen. So streckt auch Adam seinen leblos wirkenden Arm nach Gott aus, um von ihm das Leben zu bekommen. Die sich annähernden Fingerspitzen der Beiden lassen ahnen, wie sehr Gott und Mensch diese Berührung wollen. Der Mensch, weil er ohne Gott nicht zum Leben findet. Gott, weil er sein Ebenbild liebt. Michelangelos Bild lässt mich fragen: Wie und wo strecke ich mich nach Gott aus in diesen Tagen vor Ostern? Wie nahe lass ich Gott in mein Leben?
Der Christus, der Sohn Gottes, der vom Himmel in die Welt gekommene, steht vor Martha. Wer sonst könnte das Leben und die Auferstehung sein?
Amen
Mathew Ponnambel