Gott hat sich an mich erinnert
„Ich bin nicht mehr der Kleinste in meiner Klasse!“ Das erzählte mir mein jüngster Neffe letzte Woche ganz stolz bei einem gemeinsamen Ausflug. Mit seinen 15 Jahren ist er immer noch recht zart, aber jetzt hat er endlich das geschafft, worauf er schon seit Jahren gewartet hat. Er war in der Schule und natürlich auch in unserer Familie immer der Kleine. Damit er aber nicht übersehen wird, hat er sich zu einem äußerst eloquenten und kontaktfreudigen Jugendlichen entwickelt. Überhört wird er nicht so leicht.
Letzte Woche habe ich einen unerwarteten Anruf erhalten, der mich ins Schwitzen brachte: „ Herr Pfarrer, haben Sie heuer meinen Geburtstag übersehen? Sie sind ja sonst immer alle Jahre gekommen.“ Eine liebe Frau mit über 90 Jahren hat sich gemeldet und diese Erinnerung nicht anklagend vorgebracht sondern recht fröhlich und mit einem Lachen. Ja und sie hatte recht. Tatsächlich hatte ich diesmal ihren Geburtstag übersehen. Schnell beeilte ich mich, diesen Besuch nachzuholen und es war wie alle Jahre eine schöne und herzliche Begegnung.
Zwei Beispiele aus meinem Alltag, die mir wieder gezeigt haben, wie wichtig es ist, jemanden nicht zu übersehen oder umgekehrt ANSEHEN zu bekommen.
„Die stärkste Droge für den Menschen ist der andere Mensch.“ Das schreibt der bekannte Neuro-wissenschaftler Joachim Bauer. Er meint damit, dass er als Naturwissenschaftler genau feststellen kann, dass bei einer positiven Interaktion dieselben Glücksboten-stoffe vom Gehirn ausgesandt werden, wie wenn einer Schokolade isst oder gar Drogen nimmt. Er beschreibt wie schon für Säuglinge die Aufnahme des Blick-kontakts die erste und wichtigste Kommunikation ist. Unser Gehirn ist so eingerichtet, dass wir ständig intuitiv wahrnehmen, wie wir als Person von den anderen in unserer Umgebung wahrgenommen werden. Das bestimmt unsere Selbstsicht und unser Wohlbefinden. Dafür gibt es die unterschiedlichsten sprachlichen Ausdrücke: Sie steht in hohem Ansehen. Sie hat mich angelächelt und mir einen Blick zugeworfen. Oder: Er hat sein Ansehen verloren. Man würdigt ihn keines Blickes mehr.
Die Erzählung im heutigen Evangelium über die Begegnung zwischen Zachäus und Jesus ist ein Muster-beispiel dafür, was „an-sehen“ bewirken kann. Jesus sieht den, der sich im Baum versteckt und geht in die Offensive, indem er sich gleich selbst in sein Haus einlädt, auch auf die Gefahr hin, an Ansehen bei seinen treuen Freunden einzubüßen, die nicht verstehen, warum er sich mit solch korrupten Persönlichkeiten einlässt. Es schenkt dem Zachäus unverdient seine Wertschätzung und Hochachtung, seinen Blick. Dadurch stellt er die gesamte Lebenseinstellung des Zachäus auf den Kopf: Er, der als Zolleinnehmer recht willkürlich die Taxen festsetzen konnte und quasi durch Ausbeutung reich geworden ist, beginnt sein Geld zu teilen und das Vierfache zurückzuzahlen.
So erlebt dieser Zachäus, dass sein Name Programm ist für das Handeln Jesu an ihm. Manche leiten den Namen Zachäus vom Hebräischen „zakkaj“ ab, was so viel wie „sich erinnern“ bedeutet. Also meint der Name Zachäus: Gott hat sich (an mich) erinnert! Gott hat mich nicht vergessen! Weil er das selbst erlebt, wird er befähigt dasselbe auch anderen gegenüber zu tun.
In jeder Messe üben wir die Haltung dem oder der anderen Ansehen zu geben ein. Besonders jetzt durch die Coronamaßnahmen ist das nochmals deutlicher geworden. Beim Friedensgruß reichen wir nicht mehr nur dem oder der Nächsten neben uns die Hand, sondern wir erheben unseren Blick und schauen einander bewusst an und nicken uns freundlich zu. Genau das ist es.
Heute bitte ich euch, dass wir den Friedensgruß bewusst vorziehen und jetzt gleich aufstehen und uns einander einen Blick und ein freundliches Zulächeln wert sind. Das bringt uns in das Tun Jesu. AMEN!